Immer alles im Lot
Jean-Baptiste Say: Traité d'Économie Politique
Die Erleuchtung kam Jean-Baptiste Say, als er halb im Dunkeln saß. Der junge Franzose hatte sich auf einer Reise durch England in einer Pension in Croydon eingemietet. Eines Morgens schickte der Wirt zwei Handwerker, die kurzerhand eines der beiden Fenster im Gästezimmer zumauerten. Der schlaue Hausherr wollte die Fenster- und Türensteuer sparen, die das Parlament gerade verabschiedet hatte. Say erkannte, daß derartige Steuern niemandem nutzten. Im Gegenteil: Exzessive Abgaben, behauptete er fortan, seien höchst schädlich und drückten letztlich sogar die Gesamteinnahmen des Staates.
In seinem Werk Traité d'Économie Politique, der Abhandlung über die Nationalökonomie, hat Jean-Baptiste Say (1767 bis 1832) Jahre später den Gedanken präzisiert. Er beschrieb die Folgen einer falschen Steuerpolitik: Wer zu hoch belastet werde, könne weniger Geld ausgeben. Sinke die Nachfrage, sinke auch die Produktion - und das lasse die Steuereinnahmen der Regierung schrumpfen. Umgekehrt heißt das: Senkt der Staat den Steuersatz, steigen Produktionsvolumen und Steuereinnahmen.
Heutzutage würde der Franzose damit als Verfechter einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik gelten. Die Bedeutung des erstmals 1803 erschienenen Traité liegt jedoch vor allem in Says Beobachtungen zum gesamtwirtschaftlichen Angebot. Jedes Angebot, behauptete der damals 36jährige, schafft sich seine eigene Nachfrage - daß dauerhaft zuviel Güter produziert werden, ist also unmöglich. Das ist das "Saysche Theorem". Für den Arbeitsmarkt hieße das: Eine dauerhafte Arbeitslosigkeit, zum Beispiel als Resultat von Überkapazitäten, könne es nicht geben. Denn wenn die Waren - wie Say unterstellt - allesamt verkauft würden, wäre die Produktion ausgelastet oder würde weiterwachsen. Die Annahmen, unter denen Say sein Theorem entwickelte, entsprachen im wesentlichen den Vorstellungen von Adam Smith: Geld war in der Welt der klassischen Nationalökonomen nur ein Mittel zum Zweck. Wer etwas einnahm, verwendete das Einkommen zum Kauf anderer Produkte; wer sparte, investierte das Gesparte selbst oder gab es anderen zum Investieren. Geld nur zu horten war nicht sinnvoll - nach Auffassung der Klassiker versprach das keinen Zinsgewinn. In seinem Traité zog Say daraus die Schlußfolgerung: Wer etwas produziert, verwendet das Einkommen aus dem Verkauf wieder für den Kauf von Gütern. Angebot und Nachfrage stehen damit in engem Zusammenhang - je größer die Produktion und damit das Angebot an Waren, um so größer ist auch das Einkommen der Produzenten. Wenn rein rechnerisch aber ein steigendes Angebot die entsprechende Nachfrage nach sich zieht, entsteht ein allgemeines Gleichgewicht. Die Konsequenz: Wirtschaftskrisen durch Überproduktion sind nicht möglich. Zwar räumte Say ein, daß es kurzfristig auch zu einer Marktsättigung und damit zu Arbeitslosigkeit kommen könnte - etwa durch geänderte Präferenzen der Käufer. Sofern der Staat der Wirtschaft keine Fesseln anlege, strebe der Markt aber wieder ins Gleichgewicht, weil sich die Produzenten langfristig den Wünschen der Konsumenten anpaßten. "Says Auffassung vom wirtschaftlichen Gleichgewicht", schrieb der Wissenschaftler Horst Claus Recktenwald, "verlangt die totale Freiheit in allen Bereichen der Wirtschaft."
Steuern zum Beispiel waren für Say nur künstliche Hindernisse, die den effizienten Einsatz des Einkommens - den "reproduktiven Konsum" - verhinderten. Der gelernte Kaufmann und spätere Professor für Politische Ökonomie stand dem Staat grundsätzlich skeptisch gegenüber. Eingriffe der Regierung ins Marktgeschehen, etwa durch Einfuhrhemmnisse, lehnte er ab. Der Staat sollte auch nicht als Produzent auftreten, sondern sich auf die Erzeugung öffentlicher Güter - wie den Bau von Straßen - beschränken.
So viel Liberalismus mußte im Frankreich Napoleons zwangsläufig auf Widerstand stoßen. Der Druck der zweiten Auflage des Traité wurde verhindert, und Say verlor sein Amt als Tribun im Ausschuß für Finanzen. Erst 1814 - nach der Abdankung Napoleons - erschien die zweite Auflage des Traité. Schon kurz nach Veröffentlichung des Traité hatten sich erste Zweifler zu Wort gemeldet, und Say hat seine Argumentation daher auch in fünf weiteren Auflagen verfeinert oder ergänzt. Spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts jedoch - im Zeitalter von Weltwirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit - wurden die Defizite seiner Theorie offenbar: Tatsächlich kann zwischen der Entstehung von Einkommen und dessen Verwendung, anders als die Klassiker annahmen, geraume Zeit vergehen. Und Geld spielt in einer Volkswirtschaft eine viel komplexere Rolle, als Say erkannte. Mit diesen Erkenntnissen aber sollte ein anderer Ökonom das Saysche Theorem später praktisch auf den Kopf stellen. Sein Name: John Maynard Keynes.
Jean-Baptiste Say: Traité d'Économie Politique (Abhandlung über die Nationalökonomie); Nachdruck der 6. Auflage von 1841; Zeller-Verlag, Osnabrück 1966
Marcus Brost (c) DIE ZEIT 1999