Geschichte der Wirtschaftstheorie
Studierende der Wirtschaftswissenschaft haben es nicht einfach, Namen von Ökonomen, Denkrichtungen und Schulen zeitlich oder in ihrer Beziehung zueinander einzuordnen. Dieser Beitrag ist ein Versuch, eine Grobstruktur der Geschichte der Wirtschaftstheorie zu entwerfen und anhand einer tabellarischen Übersicht ein wenig Ordnung in das historische Geflecht von Namen und Bezeichnungen zu bringen. In den einzelnen Abschnitten des Beitrags werden die zentralen Ideen der in der Tabelle angeführten Richtungen, Schulen und Autoren erläutert und Verbindungslinien angesprochen. Durchgezogene Linien sagen aus, daß Schulen oder Autoren, selbstverständlich in zeitlicher Reihenfolge, aufeinander aufbauen; unterbrochene Linien sollen eine Beziehung im Sinne kritischer Auseinandersetzung andeuten.
1. Vorgeschichte der Wirtschaftstheorie
Als geschichtliche Wurzeln der Wirtschaftstheorie können die Anschauungen antiker Philosophen zu wirtschaftlichen Sachverhalten und die Bibel gelten, ferner die Geschäftspraktiken antiker und mittelalterlicher Kaufleute.
Bei Aristoteles (384 - 322 v.Chr.) finden sich zwei wichtige Begriffspaare. Das erste Begriffspaar ist der Gebrauchswert, als individuelle Nützlichkeit von Gütern, und der Tauschwert, als ihr Austauschverhältnis mit anderen Gütern oder mit Geld. Dieses Begriffspaar ist zentral sowohl in der objektivistischen Wertlehre der Klassischen Schule und der Sozialisten als auch in der subjektivistischen Wertlehre der Grenznutzenschule. Das zweite Begriffspaar ist die Ökonomie, als Lehre der weitgehenden Eigenversorgung landwirtschaftlicher Haushalte, und die Chrematistik, als die Lehre von den Kaufleuten und Händlern, die aus der Vermittlung des Gütertausches unter Einschaltung des Geldes eine Erwerbskunst zur Vermögensbildung machen. Die mittelalterlichen Scholastiker, z.B. Thomas von Aquin (1225— 1274), nehmen die aristotelischen Lehren auf und verbinden sie mit biblischen Lehren zu einer Sichtweise wirtschaftlicher Sachverhalte unter christlichen-ethischen Normen, z.B. der des "gerechten Preises" (iustum pretium).
Die Praktiken der Kaufleute setzen sich fort in der Wirtschaftspolitik des Merkantilismus zu Beginn der Neuzeit. Die französische Ausprägung erreicht ihren Höhepunkt mit dem Colbertismus (Colbert 1619 - 1683), der auf Förderung gewerblicher Manufakturen setzt, und zwar zu Ungunsten der Landwirtschaft dadurch, daß geringe Nahrungsmittelpreise die Arbeitskräfte für Manufakturen billig machen sollen. Die englischen Bullionisten wollen durch protektionistische Außenwirtschaftspolitik eine aktive Handelsbilanz verwirklichen, die Edelmetallimport ermöglichen und damit eine Ausweitung der (Metall-)Geldmenge herbeiführen soll. Die deutschen Kameralisten sehen das Wohl des Staates in einer großen Bevölkerung und in geordneten Finanzen eines blühenden Herrscherhauses.
Einen ersten umfassenden theoretischen Ansatz liefern die französischen Physiokraten. Im Gegensatz zum Colbertismus stellen sie die Landwirtschaft in den Mittelpunkt; allein die Naturkräfte des Bodens seien produktiv in dem Sinne, daß sie einen Mehrwert (produit net) hervorbringen. Ihr Hauptvertreter Francois Quesnay (1694 - 1774) entwirft auf der Grundlage dreier Klassen, den Bodeneigentümern (classe propriétaire), den Bodenpächtern (classe productive), den Gewerbetreibenden und Händlern (classe stérile), das "tableau économique", das Schema eines volkswirtschaftlichen Kreislaufs, welches mit seinen Ausgaben- und Einnahmenströmen die Verflechtung der Klassen zeigt.
II. Die Klassische Schule der Nationalökonomie
Mit Adam Smith' (1723 - 1790) "An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations" (1776) setzt sich auch im wirtschaftlichen Bereich ein die individuelle Freiheit und Verantwortlichkeit betonendes Weltbild durch, das dem einzelnen Menschen die Verfolgung seines Eigeninteresses zugesteht. Arbeitsteilung steigert die Produktivität, eine strenge Wettbewerbsordnung verhindert Monopolmacht. Daß sich Eigeninteresse im Rahmen des Wettbewerbs in gesamtwirtschaftliches Interesse umsetzt, ist die verbindende Idee der mit dem "Wealth of Nations" beginnenden Klassischen Schule, die mit den Werken David Ricardos (1772 - 1823) einen Höhepunkt an analytischer Schärfe und denen John Stuart Mills (1806 - 1873) einen zusammenfassenden Abschluß erreicht.
Zentral in der klassischen Lehre ist der natürliche Preis eines Gutes, der sich aus den Herstellkosten einer Gütereinheit zusammensetzt, wobei die auf die einzelnen Faktoren entfallenden Kostenanteile wieder mit natürlichen Faktorpreisen bewertet zu denken sind. Der natürliche Preis der Arbeit, also der natürliche Lohnsatz, entspricht den Herstell- oder Reproduktionskosten einer Arbeitsstunde. Eine natürliche oder gewöhnliche Profitrate sorgt für die Wiederbereitstellung von Geldkapital für Produktionszwecke (unter Hinnahme von Konsumverzicht und Risiko des Kapitalverlustes); der gewöhnliche Profit ist mithin ein Kostenelement für die Verzinsung eingesetzten Geldkapitals. Bei Smith ist die Bodenrente ein drittes Kostenelement des natürlichen Preises von Gütern; bei Ricardo richtet sich der natürliche Preis eines Gutes nach den natürlichen Kosten für Arbeit und Kapital auf dem schlechtesten in Anbau genommenen Boden, die Bodenrente ist daher Differentialgewinn infolge geringerer Kosten auf günstigeren Böden.
Frage 1: Was ist mit den Herstell- oder Reproduktionskosten einer Arbeitsstunde, die den natürlichen Lohnsatz bestimmen, gemeint?
Am Markt bildet sich der Marktpreis eines Gutes aus Nachfrage und Angebot. Übersteigt der Marktpreis den natürlichen Preis, so ist die Profitrate höher als die gewöhnliche. Dadurch werden zusätzliche Ressourcen in die Produktion des Gutes gelenkt, so daß das Angebot steigt, bis der Marktpreis auf den natürlichen Preis gefallen ist. Liegt der Marktpreis unter dem natürlichen Preis, werden Ressourcen abgezogen, so daß das Angebot abnimmt. In dem durch das Eigeninteresse der Ressourceneigentümer gesteuerten Marktprozeß entwickelt sich der Marktpreis also stets in Richtung des natürlichen Preises, und dieser ist so hoch, daß er gerade die Reproduktion oder Wiederbereitstellung der für die Produktion des Gutes benötigten Ressourcen gewährleistet.
Da Arbeit als wichtigster Produktionsfaktor angesehen wird, glaubt Ricardo, daß das Verhältnis der in zwei Gütern enthaltenen Arbeitszeit näherungsweise deren Austauschmengen, also das Verhältnis ihrer natürlichen Preise oder ihren relativen Tauschwert, bestimmt. Mit Arbeitszeit als Maßstab wird die klassische Lehre des relativen Tauschwertes von Gütern als objektivistische Wertlehre gedeutet. Der Gebrauchswert als subjektive Nützlichkeit eines Gutes ist zwar mitbestimmend für die Nachfrage, trägt aber nicht zur Erklärung des Tauschwertes bei.
Die Arbeit ist zwar zentraler Produktionsfaktor; sie wird jedoch als produzierbares Gut betrachtet, auf das die Markttheorie angewendet werden kann: Ein höherer Marktlohnsatz als der natürliche Lohnsatz führt nach dem Bevölkerungsgesetz von Malthus (1766 - 1834) über Bevölkerungswachstum zu vergrößertem Arbeitsangebot, wodurch der Marktlohnsatz in Richtung des natürlichen Lohnsatzes fällt. Nach Smith eilt allerdings im Wachstumsprozeß der Volkswirtschaft eine steigende Arbeitsnachfrage dem Bevölkerungswachstum voraus, so daß sich der Marktlohnsatz über dem natürlichen Lohnsatz halten kann. Solange das Wachstum anhält, nehmen damit auch die Arbeiter am wirtschaftlichen Fortschritt teil. Nach Malthus und Ricardo könnten die Arbeiter, statt sich zu vermehren, ihre Reproduktionsansprüche an die Lebenshaltung erhöhen, d.h. einem gestiegenen Marktlohnsatz eine Erhöhung des natürlichen Lohnsatzes folgen lassen; die klassischen Autoren halten eine Einschränkung der Vermehrung jedoch für unrealistisch.
Es ist die mit dem Bevölkerungsgesetz beschriebene ständige Vermehrstendenz der Bevölkerung und des Arbeitsangebotes, die der klassischen Lehre der Wohlstandsentwicklung durch Entfaltung der Marktkräfte einen pessimistischen Beigeschmack verleibt. Mit dem drastischen Rückgang der Vermehrungstendenz im Laufe des Entwicklungsprozesses erwies sich die Befürchtung, daß Arbeiter von der Wohlstandssteigerung ausgeschlossen bleiben könnten, als historisch und zeitbedingt.
Frage 2: Ist "Verfolgung des Eigeninteresses", das die Klassische Schule den Wirtschaftssubjekten zugesteht, mit dem Bevölkerungsgesetz von Malthus vereinbar?
Der Wachstumsprozeß könnte nach Smith an eine natürliche Grenze der Marktausdehnung stoßen und nach Ricardo deshalb in einem stationären Zustand enden, weil auf den nicht vermehrbaren Böden der Volkswirtschaft die Arbeitskosten der Produktion steigen und die Profite fallen. Fehlende Nachfrage ist nicht der Grund für abnehmendes Wachstum, denn der Marktmechanismus funktioniert so, wie es der französische "Smithianer" Jean Baptiste Say (1767 - 1832) formulierte: Abgesehen von vorübergehend "verstopften Absatzwegen", schafft sich jedes Angebot seine Nachfrage, d.h. die Preise spielen sich so ein, daß die Bezieher der Einkommen, die in der Produktion entstehen, genau die Güter in den Mengen kaufen möchten, die produziert werden. Nur Malthus befürchtet einen Mangel an Nachfrage, weil wegen ungleicher Einkommensverteilung mehr gespart als investiert wird; damit wird er zum Vorläufer der Keynesschen Lehre.
III. Die Sozialisten
Nach den Lehren des Sozialismus ist eine ursprüngliche Freiheit und Gleichheit aller Menschen infolge von Fehlern in den Gesellschaftsordnungen verloren gegangen. Der utopische Sozialismus glaubt, die "richtige" Gesellschaftsordnung könne durch Vernunft neu entdeckt und dann unmittelbar verwirklicht werden. Der realistische Sozialismus sieht eine geschichtsnotwendige Abfolge von Gesellschaftsformationen; innerhalb einer Formation geraten die (statischen) Produktionsverhältnisse mit den (dynamischen) Produktivkräften in Widerspruch, so daß Krisen entstehen und auf dem Höhepunkt einer Krise durch Revolution der Übergang zur nächsten Formation erfolgt. Im Kapitalismus sind die Produktionsverhältnisse so, daß sich die Produktionsmittel im Eigentum von Kapitalisten befinden, während die Arbeiter darauf angewiesen sind, ihre Arbeitskraft als Ware zu verkaufen. Die Produktivkräfte nehmen durch das Profitstreben der Kapitalisten gewaltig zu, die Arbeiter werden zunehmend ausgebeutet. Die Ablösung des Kapitalismus durch Revolution führt über den Sozialismus zum Kommunismus, der letzten und vollendeten Gesellschaftsformation, in der der Staat abgeschafft ist, Freiheit und Gleichheit wieder hergestellt sind und jeder nach seinen Bedürfnissen arbeiten und verbrauchen soll.
Karl Marx (1818 - 1883) will in seinem dreibändigen Hauptwerk "Das Kapital" die Entwicklungsgesetze des Kapitalismus ergründen; er versucht dies in kritischer Auseinandersetzung mit der klassischen Lehre. Marx übernimmt, wenn auch unter teils anderen Bezeichnungen, die Theorie vom natürlichen Preis (jetzt: Produktionspreis) und vom Marktpreis, ebenso ihre Anwendung auf den Faktor Arbeit. Der Lohnsatz tendiert grundsätzlich zum klassischen natürlichen Lohnsatz; ist der Marktlohnsatz höher als dieser, so erfolgt eine Vermehrung des Arbeitsangebotes allerdings nicht nach dem Bevölkerungsgesetz; der Marktlohnsatz sinkt vielmehr infolge zusätzlichen Arbeitsangebotes aus der "industriellen Reservearmee", die durch Freisetzung von Arbeitskräften entstanden ist, auf den Reproduktionslohnsatz.
Der klassischen Markttheorie unterlegt Marx eine Wert-, Mehrwert- und Ausbeutungslehre, mit der er von den Erscheinungsformen zum Wesen des Kapitalismus vordringen möchte: Nach dem Wertgesetz ist der Wert einer Ware gleich der "gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit" zu ihrer Bereitstellung. Der Wert der Ware Arbeit ist demzufolge gleich der Arbeitszeit, die notwendig ist, die Lebens- und Unterhaltsmittel hervorzubringen, welche die Arbeitszeit reproduzieren. Der Mehrwert entsteht dadurch, daß der Wert der Waren, den die Arbeit in der Kombination mit Produktionsmitteln hervorbringt, den Wert der Arbeit übersteigt. Nur ein Teil des an einem Tag produzierten Wertes wird den Arbeitern als Reproduktionslohn ausgezahlt; den Rest des Tages produzieren sie ein "Mehrprodukt", dessen Wert der Mehrwert ist und mit dessen Aneignung die Kapitalisten die Arbeiter ausbeuten.
Nur das in Arbeit angelegte Geldkapital bringt nach Marx den Mehrwert hervor, ist daher variables Kapital; das für Produktionsmittel verausgabte Geldkapital überträgt seinen Wert auf das Produkt, ist daher konstantes Kapital. Weder der Boden noch der durch Nettoinvestition geschaffene Kapitalstock (der "geronnene Arbeit" verkörpert) trägt zum Mehrprodukt bei. Die willkürliche Zurechnung des Mehrwertes allein zum Faktor "lebendige Arbeit" ist ursächlich dafür, daß Marx' Wertlehre die Produktionspreise der einzelnen Waren nicht erklären kann, sobald er (im dritten Band) unterschiedliche Ausstattung der Arbeitskraft mit Produktionsmitteln zuläßt. Marx suchte eine objektivistische Erklärung des absoluten Tauschwertes von Waren durch die in ihnen enthaltene Arbeitszeit; er wollte damit über Ricardos näherungsweise Erklärung des relativen Tauschwertes zweier Güter durch das Verhältnis von Arbeitszeiten hinausgehen. Der Versuch, mit seiner Arbeitswertlehre die wertschöpfende Kraft einer Volkswirtschaft allein im Faktor ("lebendige") Arbeit zu suchen und damit letztlich nur Arbeitseinkommen für legitim zu halten, muß als gescheitert angesehen werden.
Frage 3: Wie wäre eine Volkswirtschaft zu beschreiben, in der es keine "Ausbeutung" im Sinne von Marx gibt?
Marx konstatiert für den Kapitalismus einen Zwang zur Kapitalakkumulation, sagt eine Konzentration des Kapitals, fallende Profitrate, Verelendung der Arbeiterklasse, zunehmende Konjunkturkrisen und schließlich den Zusammenbruch des Kapitalismus durch Revolution voraus. Lenin (1870 - 1924) sieht den Imperalismus, der durch Ausbeutung von Kolonien beschrieben wird, als höchstes Stadium des Kapitalismus an und folgert, daß ImpuIse für die Revolution aus den Kolonien zu erwarten sein.
IV. Die Grenznutzenschule und Marshalls "Versöhnungsversuch"
Konträr zur objektivistischen Wertlehre der Klassiker und der Sozialisten vertritt die Grenznutzenschule die Auffassung, Grundlage des Tauschwertes von Gütern sei deren Gebrauchswert, genauer: der Nutzen der zuletzt verbrauchten Gütereinheit (Grenznutzen). Diese subjektivistische oder auch marginalanalytische Wertlehre nimmt Hermann Heinrich Gossen (1810 - 1858) mit dem "Gesetz abnehmenden Grenznutzens" und dem "Gesetz von Ausgleich der Grenznutzen des Geldes" vorweg. Die Grenznutzenschule setzt sich mit den Werken von Stanley Jevons (1835 - 1882), Carl Menger (1840 - 1920) und Léon Walras (1834 - 1910) zu Beginn der 1870er Jahre durch. Sie kann das klassische Wertparadoxon lösen, daß ein reichlich vorhandenes Gut wie Wasser zwar einen hohen Gebrauchswert, jedoch nur einen geringen Grenznutzen und damit einen geringen Tauschwert hat, während ein sehr knappes und nicht vermehrbares Gut wie Diamanten einen geringen Gebrauchswert, aber hohen Grenznutzen und damit einen hohen Tauschwert hat.
Jevons erkennt, daß ein Konsument den Verbrauch von zwei Gütern so weit ausdehnen soll, daß das Verhältnis der von ihm subjektiv empfundenen Grenznutzen der Güter dem Verhältnis ihrer Preise entspricht. Menger bemüht sich um die Bestimmung des Tauschwertes von Vorprodukten und Produktionsfaktoren aus den Grenznutzen der mit diesen produzierten Konsumgüter. Walras gibt mit einer mikroökonomischen Totalanalyse der Theorie einer Konkurrenzwirtschaft erstmals eine formal-marginalanalytische Begründung: Aus der Nutzenmaximierung der Haushalte und der Gewinnmaximierung von Unternehmungen deduziert er Angebots- und Nachfragefunktionen für Faktoren und Güter, die zur Ermittlung von markträumenden Faktor- und Güterpreisen eines allgemeinen ökonomischen Gleichgewichtes (in dem auch das Gossensche Gesetz vom Ausgleich der Grenznutzen des Geldes gilt) verwendet werden.
Alfred Marshall (1842 - 1924) möchte die klassische objektivistische Erklärung von Tauschwerten mit herstellkostenbestimmten natürlichen Preisen und die subjektivistische Erklärung von Tauschwerten mit grenznutzenbestimmten Preisen "versöhnen". Er interpretiert die klassische Erklärung als angebotsorientiert, die grenznutzentheoretische als nachfrageorientiert; jede der Erklärungen könne mit einer Schneide einer Schere verglichen werden, beide Schneiden vollbringen einen Schnitt gemeinsam. Die Preisbildung werde kurzfristig vom Grenznutzenprinzip, langfristig von den Herstellkosten bestimmt. Mit seiner Methode der Partialanalyse argumentiert Marshall, daß kurzfristig die Angebotskurve für ein Gut senkrecht verlaufe, so daß nur die Nachfrage über den Preis entscheidet, während langfristig der Zustrom zusätzlicher Ressourcen in die Produktion des Gutes die Angebotskurve in Höhe der minimalen Herstellkosten waagerecht verlaufen lasse, so daß nur sie den Preis bestimmt.
Frage 4: Wie ist in Marshalls Scheren-Gleichnis der Sachverhalt zu beurteilen, daß die "klassische Schneide" angebotsorientiert ist und damit die Herstell- oder Wiederbereitstellungskosten von Faktoren den Güterpreis bestimmen, während doch Menger den Tauschwert und damit den Preis von Vorprodukten und Faktoren aus dem Grenznutzen der mit diesen Faktoren produzierten Konsumgüter erklären will?
V. Konkurrenzsozialismus und Neoricardianismus
Die Sozialisten untersuchten vorwiegend den Kapitalismus und gaben kaum Hinweise auf das Funktionieren einer sozialistischen Wirtschaft ohne Privateigentum an Produktionsmitteln mit zentraler Planung statt marktwirtschaftlicher Preisbildung. Die Vorstellung nicht-sozialistischer Autoren, man könne analog zu einer walrasianischen Totalanalyse ein der Konkurrenzwirtschaft entsprechendes System von Produktionsmengen und Preisen zentral ausrechnen, veranlaßte Oskar Lange (1904 - 1965) zu dem Vorschlag, ein zentrales Planungsamt mit der Ermittlung von Konkurrenzpreisen für Güter und Faktoren zu beauftragen, an die sich Haushalte und Unternehmungen wie bei vollständiger Konkurrenz anzupassen hätten. Langes Konzeption orientiert sich nicht nur an der Grenznutzenschule, sondern auch an Marshall.
Der von Piero Sraffa (1898 - 1983) begründete Neoricardianismus wendet sich gegen die Beschreibung der Preisbildung nur mit Angebots- und Nachfragekurven und möchte die langfristige Bestimmung des Wertes von Gütern durch den natürlichen Preis in der Tradition von Ricardo neu beleben. Mit der Darstellung einer Volkswirtschaft durch eine lineare Produktionsstruktur wendet sich
Der von Sraffa auch gegen den grenznutzentheoretischen marginalanalytischen Ansatz.
VI. Keynes, Postkeynesianer und Neokeynesianer
Vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise bezweifelt John Maynard Keynes (1883 - 1946) das von Say formulierte klassische Theorem, daß sich jedes Angebot seine Nachfrage schafft, daß es sich mithin lohnt, die vorhandenen Produktionsfaktoren voll zu beschäftigen. Der Marktmechanismus funktioniert offenbar nicht in der von den Klassikern, von der Grenznutzenschule und von Marshall beschriebenen Weise. Wie schon von Malthus angedeutet, kann es Mangel an effektiver Nachfrage geben. Im keynesianischen makroökonomischen Modell, das John R. Hicks (1904 - 1989) mit dem IS/LM-Schema für den Güter- und für den Geldmarkt interpretiert, ist ein Gleichgewicht bei Unterbeschäftigung möglich, welches mit zinsunelastischen Investitionen, mit unendlich zinselastischer Geldnachfrage oder mit starren Lohnsätzen erklärt werden kann. Die Keynesianische Revolution erschüttert den Glauben an einen jederzeit funktionierenden Marktmechanismus. Der Staat ist aufgerufen, fehlende private Nachfrage durch Staatsnachfrage auszugleichen.
Die Postkeynesianer modifizieren und erweitern die Keynessche Theorie durch einen vermögenstheoretischen Ansatz. Die Neokeynesianer interpretieren Keynessche Unterbeschäftigung als ein temporäres Gleichgewicht, in dem nicht-markträumende Fixpreise Mengenrationierungen verursacht haben; mißverständlich bezeichnet man ihre Konzeption auch als " Ungleichgewichtstheorie " .
VII. Neoklassische Synthese, Monetarismus und Neue Klassische Makroökonomik
In der Neoklassischen Synthese werden Ideen der marginalistischen Grenznutzenschule und der Marshallschen Partialanalyse von Märkten verarbeitet, die sowohl der Makroökonomik keynesianischer Prägung als auch der Mikroökonomik eine Basis für Weiterentwicklungen geben.
Der makroökonomische Monetarismus Milton Friedmans (geb. 1912) läßt sich als Gegenrevolution gegen die keynesianische Konzeption, die dem Staatssektor zunehmende Bedeutung einräumte, interpretieren. Der Monetarismus erklärt Störungen des Marktmechanismus durch Unterbeschäftigung mit unregelmäßigen Ausdehnungen der Geldmenge und lenkt damit die Aufmerksamkeit auf das Problem der Inflation. Die Phillipskurve schien anzudeuten, daß Unterbeschäftigung durch Zulassen einer höheren Inflationsrate gesenkt werden könne. Nach Friedman gilt dies jedoch nur, solange die Wirtschaftssubjekte ihre Erwartungen noch nicht an eine bereits gestiegene Inflationsrate adaptiert haben, sie sich also kurzfristig täuschen lassen. Der Marktmechanismus tendiert unabhängig von Geldmengenwachstum und Inflation längerfristig zu einer durch institutionelle Faktoren bestimmten natürlichen Arbeitslosenquote.
Die Neue Klassische Makroökonomik unterstellt statt adaptiver Erwartungen rationale Erwartungen, gemäß denen die Wirtschaftssubjekte die Fähigkeit haben, die längerfristigen Inflationswirkungen der Geldpolitik zu durchschauen und zu antizipieren, so daß kurzfristige, auf Täuschung beruhende Beschäftigungswirkungen ausbleiben.
VIII. Neue Mikroökonomik, Neue Institutionenökonomik und Neue Politische Ökonomie
In diesem Abschnitt werden abschließend die auf der Neoklassischen Synthese aufbauenden mikroökonomischen Weiterentwicklungen angesprochen. Die Neue Mikroökonomik macht bewußt, daß Informationen kein kostenfreies Gut sind. Die Wirtschaftssubjekte werden unvollständige Information durch Aufwenden von Informationskosten nur reduzieren, nicht beseitigen. Die Existenz von Informationskosten erklärt die Bereitschaft, bei unvorhergesehenen Änderungen des Angebotes oder der Nachfrage die Preise nicht jeweils markträumend schwanken zu lassen, sondern Angebots- oder Nachfrageüberschüsse hinzunehmen. Auch Sucharbeitslosigkeit ist durch Informationskosten begründet.
Die Neue Institutionenökonomik erfaßt nicht nur Informations-, sondern ganz allgemein Transaktionskosten, die es neben den Produktionskosten zu berücksichtigen gilt. Die Koordinationsstruktur einer Volkswirtschaft, wie sie sich über Märkte, innerhalb von Unternehmungen und innerhalb einer Vielzahl von Kooperationsformen herausgebildet hat, wird als institutionelles Arrangement einer Volkswirtschaft interpretiert, welches die Summe aus Produktions- und Transaktionskosten minimiert. Hier könnte auch der Property Rights-Ansatz eingeordnet werden, der Rechte und Pflichten der Wirtschaftssubjekte, insbesondere bezüglich positiver und negativer externer Effekte, in die Frage nach der bestmöglichen institutionellen Gestaltung einer Volkswirtschaft einbezieht.
Die Neue Politische Ökonomie wendet neoklassische Ideen auf das Verhalten von Politikern sowie auf die Einigung der Wirtschaftssubjekte über die Einrichtung staatlicher Institutionen und Regeln an, innerhalb derer das Wirtschaftsgeschehen ablaufen soll.
Literaturempfehlungen:
Blaug, M.: Economic Theory in Retrospect. 2nd ed., Homewood/III. 1968 (deutsch: Systematische Theoriegeschichte der Ökonomie. 2 Bde., München 1971/1972).
Felderer, B./Homburg, S.: Makroökonomik und neue Makroökonomik. 4. Aufl., Berlin usw. 1989.
Issing, O. (Hrsg.): Geschichte der Nationalökonomie. 2. Aufl., München 1988.
Ott, A.E./Winkel, H.: Geschichte der theoretischen Volkswirtschaftslehre. Göttingen 1985.
Schumann, J.: Grundzüge der mikroökonomischen Theorie. 5. Aufl., Berlin usw. 1987.
Schumann, J.: Die Marxistische Wert- und Preislehre. In: WISU, 6. Jg. (1977), S. 61 - 64 und S. 73 - 76.
Quelle: Das Wirtschaftsstudium (WISU), 19. Jg., Heft 10 (Oktober 1990), S. 586-592