Riccardo, David - Der Freihändler

David Ricardo

Der Freihändler

David Ricardo erforschte die Verteilungskonflikte im kapitalistischen Wirtschaftssystem, stritt für den freien Handel und geißelte die Schuldenpolitik des Staates. Die Lehren des britischen Ökonomen sind heute aktueller denn je.

 

David Ricardo Quelle: dpa
David Ricardos Äquivalenztheorem polarisiert noch heute. Quelle: dpa

 

Als am späten Abend des 18. Juni 1815 der letzte Kanonendonner über dem Schlachtfeld von Waterloo verhallte, war klar, dass die alliierten Truppen der Briten und Preußen die Armee des französischen Kaisers Napoleon Bonaparte besiegt hatten – das erste französische Kaiserreich ging zu Ende.

 

In England brach daraufhin großer Jubel aus, und ein Engländer triumphierte ganz besonders. Der Wertpapierhändler David Ricardo hatte an der Londoner Börse kurz vor der Schlacht in großem Umfang britische Staatsanleihen gekauft und fast sein gesamtes Vermögen auf einen Sieg der Briten gesetzt. Als die Nachricht von der Niederlage Napoleons London erreichte, setzten die britischen Staatsanleihen zum Höhenflug an. Ricardo wurde mit einem Schlag zu einem der reichsten Männer des Landes. Der plötzliche Wohlstand erlaubte es dem „Günstling des Glücks“ (Ricardo über sich selbst), sich auf seinen Landsitz Gatcombe Park in Gloucestershire zurückzuziehen und seiner wahren Leidenschaft zu frönen: der politischen Ökonomie.

 

Enterbter Börsenmakler

 

Zwei Jahre später, 1817, veröffentlichte Ricardo sein wissenschaftliches Hauptwerk „On the Principles of Political Economy and Taxation“. Darin analysierte der ökonomische Autodidakt, der nie eine Universität besucht hatte, die Verteilungskonflikte im heraufziehenden Industriezeitalter und bewies, dass freier Handel den Wohlstand der Nationen erhöht.

Als David Ricardo am 18. April 1772 in London zur Welt kam, war sein Vater, ein erfolgreicher Börsenmakler, mit seiner Familie gerade aus Amsterdam nach London übergesiedelt. Nach dem Besuch der Grundschule schickten ihn seine Eltern zu Verwandten nach Amsterdam, wo er bis zum 13. Lebensjahr das Gymnasium besuchte. Nach der Rückkehr in die britische Hauptstadt trat er mit 14 Jahren in die Maklerfirma seines Vaters ein. Rasch fiel er durch seine überdurchschnittlichen Fähigkeiten in Mathematik auf und – wie einer seiner Brüder bemerkte – durch „den Gefallen an abstrakter und allgemeiner Argumentation“.

 

Mit 21 Jahren heiratete Ricardo die Arzttochter Priscilla Ann Wilkinson, eine Quäkerin. Für seine Eltern, strenggläubige Juden, war das eine Todsünde. Als sein Vater ihn deshalb enterbte und mit ihm brach, war Ricardo auf sich allein gestellt. Er nahm bei Bekannten einen Kredit auf und machte sich als Börsenmakler selbstständig – bis eben zu jener denkwürdigen Schlacht von Waterloo.

 

Zur ökonomischen Theorie kam der Mann der Praxis im Jahr 1799, als er sich mit seiner maladen Frau im südenglischen Kurort Bath aufhielt. Aus Langeweile besuchte er die örtliche Bibliothek, wo ihm das Buch „Der Wohlstand der Nationen“ von Adam Smith in die Hände fiel. Die Analysen des schottischen Ökonomen fesselten Ricardo so sehr, dass er sich in den Folgejahren intensiver mit der Ökonomie auseinandersetzte.

 

 

 
Schlacht von Waterloo Quelle: Corbis
Aufs richtige Pferd gesetzt. Ricardo wettete an der Börse auf einen Sieg der Briten und Preußen gegen Napoleon bei der Schlacht von Waterloo - und gewann. Quelle: Corbis

 

Seine ersten Gedanken über ökonomische Zusammenhänge brachte er 1810 in Form von Briefen zu Papier. Das Thema: die Inflation. In Großbritannien herrschte damals der Goldstandard, die umlaufenden Geldscheine waren durch Gold gedeckt. Doch der Preis für Gold, ausgedrückt in Papiergeld, nahm dramatisch zu. Die Mehrheit der Briten führte dies auf die Kontinentalsperre zurück, die Napoleon gegen Großbritannien verhängt hatte. Ricardo jedoch argumentierte, der steigende Goldpreis sei dadurch begründet, dass die Bank von England zu viel Papiergeld drucke.

 

Der Herausgeber der Zeitung „Morning Chronicle“, dem Ricardo die Briefe zeigte, überredete ihn, diese in seiner Zeitung zu veröffentlichen. Das Leserecho war überwältigend und bewirkte, dass Ricardos Thesen im britischen Parlament debattiert wurden. Seither gilt Ricardo als Mitbegründer der Quantitätstheorie des Geldes, deren Kernaussage darin besteht, dass die Preise steigen, wenn die Geldmenge stärker wächst als die reale Güterproduktion.

 

Gute Kontakte

 

Der hohe Bekanntheitsgrad, den Ricardo durch die von ihm entfachte Diskussion erlangte, verschaffte ihm Kontakte zu großen Denkern seiner Zeit, vor allem dem Sozialphilosophen James Mill. Mill drängte Ricardo, seine Gedanken über ökonomische Zusammenhänge in einem größeren Werk zu Papier zu bringen. „Sie sind schon jetzt der größte Denker der politischen Ökonomie, und ich bin überzeugt, dass Sie auch der beste Autor werden“, schrieb Mill seinem Freund und spornte ihn so zu intellektuellen Höchstleistungen an. Das Ergebnis waren die 1817 erschienenen „Principles“, ein nach heutigen Maßstäben absoluter Bestseller. Das Buch war nach wenigen Wochen ausverkauft, machte den ökonomischen Diskurs im gebildeten Bürgertum populär und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Dass Ricardo seine abstrakten Gedanken in einer ebenso abstrakten Formelsprache transportierte, die ihn selbst fürchten ließ, das Werk hätten allenfalls 25 Menschen begriffen, tat dem Erfolg des Buches keinen Abbruch.

 

Die damaligen polit-ökonomischen Verhältnisse beim Übergang ins Industriezeitalter waren durch schwankende Ernteerträge, eine wachsende Bevölkerung und Handelsprotektionismus geprägt. Vor diesem Hintergrund widmete sich Ricardo in den „Principles“ der Frage, nach welchen Gesetzmäßigkeiten das Einkommen auf die drei Klassen der Gesellschaft – Grundbesitzer, Kapitaleigner und Arbeiter – entfällt. Ausgangspunkt seiner Analyse ist die Feststellung, dass der Lohn der Arbeiter faktisch von den Lebensmittelpreisen bestimmt wird. Der Lohn richte sich nach dem „Preis, der nötig ist, die Arbeiter instand zu setzen, sich zu erhalten und ihr Geschlecht fortzupflanzen“.

 

Wächst die Bevölkerung, werden mehr Nahrungsmittel benötigt. Das macht es erforderlich, auch die weniger fruchtbaren Ackerböden zu bewirtschaften. Dies treibt die Kosten des Nahrungsmittelanbaus und damit die Preise für Lebensmittel in die Höhe. Davon profitieren aber nur die Grundbesitzer, denn sie können jetzt von den Pächtern fruchtbarer Böden höhere Pachten verlangen.

 
 
 
Kapitalismus abschaffen-Shirt Quelle: dpa
Ricardo lag es fern, den Kapitalismus zu kritisieren oder gar dessen Abschaffung zu fordern. Im Gegenteil. Er sah in ihm die beste Wirtschaftsform, um den Wohlstand der Menschen insgesamt zu mehren, auch wenn einige Klassen mehr profitierten als andere. Quelle: dpa

 

Die Pacht kann so lange steigen, bis die Kosten für die Bewirtschaftung der fruchtbaren Böden ebenso hoch sind wie die Bewirtschaftungskosten der weniger fruchtbaren Böden. Je mehr ungünstige Böden kultiviert werden müssen und je höher dadurch die Nahrungsmittelpreise steigen, desto höher fällt die Pacht für fruchtbare Böden (Differentialrente) aus, die die Grundbesitzer verlangen. Sie sind die Gewinner der wachsenden Wirtschaft.

 

Hingegen stagnieren die Realeinkommen der Arbeiter, da ihre Löhne nur in dem Maße steigen wie die Nahrungsmittelpreise. Die großen Verlierer sind die Kapitalbesitzer, also die Unternehmer. Deren Gewinne werden von steigenden Lohnkosten aufgefressen. „Je größer der Anteil des Arbeitsergebnisses, der an die Arbeiter gegeben wird, desto kleiner ist die Profitrate, und umgekehrt“, konstatiert Ricardo. Sinkt die Profitrate, die der Brite als das Verhältnis der Gewinnspanne zu den Produktionskosten definiert, so schwindet der Anreiz, in neues Kapital zu investieren – und das Wachstum der Wirtschaft lässt nach.

 

Grafik: Mehr Wohlstand durch Handel
Grafik: Mehr Wohlstand durch Handel

 

Ricardos Verteilungstheorie, die durch den Interessengegensatz zwischen Grundeigentümern, Arbeitern und Kapitaleignern geprägt ist, rüttelt an den Harmonievorstellungen der klassischen Ökonomie, die davon ausging, dass alle Klassen der Gesellschaft vom steigenden Reichtum profitieren. Karl Marx, der sich in seinem eigenen Werk intensiv mit den Lehren Ricardos auseinandersetzte, sah in dessen Erkenntnissen denn auch eine „Angriffswaffe wider die bürgerliche Wirtschaft“.

 

Allerdings lag es Ricardo fern, den Kapitalismus zu kritisieren oder gar dessen Abschaffung zu fordern. Im Gegenteil. Er sah in ihm – ganz in der klassischen Tradition – die beste Wirtschaftsform, um den Wohlstand der Menschen insgesamt zu mehren, auch wenn einige Klassen mehr profitierten als andere. Die verteilungspolitischen Überlegungen Ricardos könnten in den nächsten Jahren wieder an Aktualität gewinnen, da die Böden zum Anbau von Nahrungsmitteln für eine wachsende Weltbevölkerung immer knapper werden.

 

 

Wie groß die Vorteile sind, die das freie Spiel der Marktkräfte entfaltet, zeigte Ricardo in seiner Untersuchung des Außenhandels. Seine Theorie des komparativen Vorteils hat Eingang in alle Lehrbücher der Handelstheorie gefunden. Das Grundprinzip ist allerdings nicht so leicht verständlich. Der Nobelpreisträger Paul Samuelson bezeichnete es als ein Theorem, das selbst intelligenten Menschen nicht immer auf Anhieb einleuchtet.

 
Containerhafen Quelle: dapd
Die deutschen Exporteure klagen über eine sich verschlechternde Auftragslage. Foto: dapd Quelle: dapd

 

Im Kern besagt die Theorie, dass ein Land auch dann erfolgreich am internationalen Handel teilnehmen kann, wenn es bei allen Produkten Kostennachteile gegenüber anderen Ländern hat. Umgekehrt lohnt es sich auch für Länder, die alle Produkte billiger herstellen können als andere, Handel mit den weniger wettbewerbsfähigen Ländern aufzunehmen und sich zu spezialisieren.

 

Ricardo erklärt seine Überlegungen am Beispiel des Handels mit Wein und Tuch zwischen Portugal und England. Angenommen, zwischen beiden Ländern gibt es keine Arbeitsteilung und keinen Handel. Dann stellen beide Länder beide Produkte her. England benötigt für die Produktion von 1000 Rollen Tuch 100 Arbeiter und für die Herstellung von 1000 Fässern Wein 120 Arbeiter. Portugal dagegen kommt mit 90 Arbeitern für 1000 Rollen Tuch und 80 Arbeitern für 1000 Fässer Wein aus. Insgesamt produzieren beide Länder zusammen 2000 Rollen Tuch und 2000 Fässer Wein.

 

»Die Defizite von heute sind die Steuern von morgen. « - Ricardo

 

Obwohl die Portugiesen bei Wein und Tuch jeweils einen absoluten Kostenvorteil (weniger benötigte Arbeitskräfte) haben, lohnt es sich für sie, sich auf die Produktion von Wein zu spezialisieren und den Briten die Herstellung von Tuch zu überlassen, das sie dann von dort importieren. Der Grund: Die Arbeitskräfte können in der portugiesischen Weinproduktion produktiver (kostengünstiger) eingesetzt werden als in der Tuchproduktion. Umgekehrt benötigt England für die Tuchproduktion weniger Arbeiter (100) als für die Weinproduktion (120).

 

Wenn sich Portugal auf seine komparativen Vorteile beim Wein konzentriert und die Tuchproduktion aufgibt, können die 90 Arbeiter aus der Tuchproduktion ins Weinsegment wechseln. Sind sie dort ebenso produktiv wie die schon eingesetzten Arbeiter, die pro Kopf 12,5 Fässer produzieren (1000 Fässer geteilt durch 80 Arbeiter), so können sie 1125 Fässer Wein zusätzlich produzieren. Insgesamt stellt Portugal dadurch 2125 Fässer Wein her, 125 mehr als beide Länder zuvor zusammen erzeugt haben. In England dagegen werden die aus der Weinproduktion ausscheidenden 120 Arbeiter in der Tuchproduktion eingesetzt. Bei gleicher Produktivität wie die dort schon arbeitenden Beschäftigten, die 10 Rollen je Kopf erzeugen (1000 Rollen geteilt durch 100 Arbeiter) können sie 1200 Rollen Tuch zusätzlich herstellen. England produziert somit 2200 Rollen Tuch, 200 mehr als beide Länder zuvor zusammen.

 

 

Indem sich jedes Land auf das Gut spezialisiert, das es relativ zu anderen Gütern im eigenen Land kostengünstiger herstellen kann, lenkt es seine Arbeitskräfte in die produktivste Verwendung. Der Handel mit dem anderen Land sichert dann die Versorgung mit dem selbst nicht mehr produzierten Gut. Auf diese Weise können auch Länder an der internationalen Arbeitsteilung teilnehmen, die in der Produktion aller Güter absolute Kostennachteile gegenüber anderen Ländern haben. Handel ist kein Nullsummenspiel, bei dem die einen gewinnen, was die anderen verlieren – sondern schafft eine Win-win-Situation. Allerdings setzt das voraus, dass Arbeitskräfte, die in der Branche mit komparativen Nachteilen entlassen werden, sofort einen Job in dem Sektor mit komparativen Vorteilen finden und dort ebenso produktiv sind wie die vorhandenen Arbeiter.

 
Schuldenuhr Quelle: dapd
Für Ricardo „eine der schrecklichsten Geißeln, die jemals zur Plage einer Nation erfunden wurden“: Die Staatsverschuldung. Quelle: dapd

 

Neben dem Handel lässt sich Ricardos Theorie auf alle Formen der Arbeitsteilung im sozialen und wirtschaftlichen Gefüge der Gesellschaft anwenden. So wäre es beispielsweise unsinnig, wenn ein hochbezahlter Manager, der sowohl schneller schreiben als auch rechnen kann als seine Sekretärin, diese nach Hause schickt und beide Arbeiten selbst erledigt. Sinnvoller ist es, er konzentriert sich auf diejenige Arbeit, bei der sein komparativer Vorteil am größten ist, etwa das Rechnen, und überlässt seiner Sekretärin das Schreiben von Briefen. Am Ende des Arbeitstages haben beide zusammen mehr erledigt, als wenn der Chef alles allein gemacht hätte.

 

»Gold und Silber besitzen einen inneren Wert, der nicht will- kürlich ist. «- Ricardo

 

Ricardo war nicht nur ein Verfechter freier Märkte, er war auch ein Gegner staatlicher Schulden, in denen er „eine der schrecklichsten Geißeln, die jemals zur Plage einer Nation erfunden wurden“, sah. Daher forderte er, den durch die Kriege angehäuften Schuldenberg Englands durch eine einmalige Vermögensabgabe rasch zu tilgen. Die Steuer würde das Vermögen der Bürger nicht verringern, da diese ohnehin in Zukunft höhere Steuern an den Staat entrichten müssten, um dessen Schuldendienst zu finanzieren. Die einmalige Abgabe entspräche dem Barwert der in Zukunft auf die Bürger ohnehin zukommenden Last. Der Gedanke, dass die „Defizite von heute die Steuern von morgen sind“, ist als Äquivalenztheorem in die wirtschaftswissenschaftliche Literatur eingegangen.

 

Der US-Ökonom Robert Barro griff diesen Gedanken 1974 wieder auf und entwickelte daraus die Barro-Ricardo-Äquivalenzproposition. Der Grundgedanke: Bei rationaler Erwartungsbildung erkennen die Bürger, dass eine schuldenfinanzierte Steuersenkung zu höheren Steuern in der Zukunft führt und ihr Lebenseinkommen nicht steigert. Da der Konsum vom Lebenseinkommen bestimmt wird, halten sie ihre Ausgaben konstant und stecken das zusätzliche Einkommen in die Ersparnisse. Kreditfinanzierte Steuersenkungen laufen daher konjunkturell ins Leere. Analog gilt für kreditfinanzierte Ausgabenprogramme des Staates, dass die Bürger daraufhin für die Zukunft steigende Steuern erwarten. Das schmälert ihr Lebenseinkommen und verringert so den aktuellen Konsum. Die nachfrageanregende Wirkung zusätzlicher Staatsausgaben wird konterkariert. Ricardianisch argumentierende Ökonomen stehen daher auf Kriegsfuß mit den Lehren des britischen Ökonomen John Maynard Keynes, der Schulden als Instrument zur Glättung von Konjunkturzyklen ansah.

 

 

David Ricardo starb am 11. September 1823 im Alter von 51 Jahren an den Folgen einer Mittelohrentzündung. Mit ihm endete das Zeitalter der klassischen Nationalökonomie.

 

Quelle: Wiwo 4.12.2011 - von Malte Fischer

 

http://www.wiwo.de/politik/konjunktur/david-ricardo-der-freihaendler/5886714.html

 

weitere Literatur von und über David Ricardo

On the Principles of Political Economy and Taxation

Piero Sraffa: The Works and the Correspondence of David Ricardo

Paul-Heinz Kösters: Ökonomen verändern die Welt

zitat-service.de