Marx, Karl

Die Bibel des Proletariats.

Karl Marx: "Das Kapital - Kritik der Politischen Ökonomie"
Der Vordenker und Anwalt der Arbeiterklasse hat nie eine Fabrik von innen gesehen. Der in Trier geborene Karl Marx war kein praktischer Mensch. Während er für sein Hauptwerk Das Kapital - Kritik der Politischen Ökonomie in der Bibliothek des Britischen Museums in London recherchierte, ernährte sein einziger Freund, Friedrich Engels, die Familie Marx.
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So wie Karl Marx (1818 bis 1883) sein Wissen darüber, wie die Arbeiter schufteten, nicht aus eigener Anschauung bezog, so kannten viele Arbeiter sein Buch, das ihre Befreiung und damit den Untergang des Kapitalismus beschrieb, nur vom Hörensagen. Selbst August Bebel, der Gründer der deutschen Arbeiterbewegung, gestand: "Ich habe das Kapital auch nicht weiter gelesen."


Als das Kapital 1867 erschien, schrieb Marx selbst die Kritiken unter verschiedenen Pseudonymen, gute wie schlechte, um die Auflage zu steigern. Bis zu seinem Tod kam Marx mit seinem Werk kaum weiter voran. Die Bände zwei und drei gab Engels heraus - auf der Basis von Fragmenten, die Marx bereits vor Erscheinen des ersten Bandes geschrieben hatte. Indessen wuchs der Ruhm des ersten Bandes. Das von Marx gemeinsam mit Engels im Revolutionsjahr 1848 verfasste Kommunistische Manifest beginnt kraftvoll: "Ein Gespenst geht um in Europa. Das Gespenst des Kommunismus." Es schließt mit dem Aufruf "Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!" Das Manifest schrieb Marx in Stunden und Tagen, mit dem Kapital quälte er sich 15 Jahre lang.
Das Kapital ist nicht nur reine ökonomische Theorie: Es ist ein gewaltiges Gedankengebäude aus Geschichte und Wirtschaftswissenschaft, Soziologie und Propaganda. Es sollte dem Sozialismus eine geistige Grundlage und dem Manifest eine theoretische Basis geben. Marx' Mission war vor allem politisch. Er verfolgte eine fixe Idee, deren Siegeszug er für unausweichlich hielt: die Idee der klassenlosen Gesellschaft, die Idee des Kommunismus. Die einen verehren das Werk dafür. Andere verwehren ihm deshalb einen Platz in der Ahnengalerie der Ökonomen.


Nach Marx folgt die kommunistische Gesellschaft der kapitalistischen, "sie ist ihre Negation". Daher beschreibt Marx im Kapital zunächst ausführlich den Kapitalismus und baute auf den Theorien klassischer Ökonomen wie Adam Smith und David Ricardo auf. Wie Ricardo nahm Marx an, dass der Wert eines Gutes von der zu seiner Herstellung notwendigen Arbeit abhängt. Allein menschliche Arbeit, gemessen in Zeit, könne Werte schaffen. Doch Marx geht weiter. In der kapitalistischen Welt, sagt er, wird alles zur Ware. Waren dienen nach seiner Definition nicht dem persönlichen Gebrauch, sie sind Produkte, die gefertigt werden, um Profit auf Märkten zu erzielen. Auch die menschliche Arbeitskraft verkommt zur Ware. Diejenigen, die keine Maschinen, keine Manufakturen besitzen, können nur ihre Arbeitskraft anbieten - für andere, für die Kapitalisten, die Eigentümer der Produktionsmittel. Als Lohn bekommen die Arbeiter so viel, wie sie für den Erhalt ihrer Arbeitskraft, also für Nahrung, Kleidung und Unterkunft brauchen. Das ist der Tauschwert der Ware Arbeitskraft. Von diesem Wert unterscheidet Marx den Wert der in der Gesamtarbeitszeit hergestellten Gütermenge, den Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft.
Erst die Unterscheidung zwischen Tausch- und Gebrauchswert, die Marx von Adam Smith übernahm, ermöglicht ihm die Entwicklung seiner Theorie des Mehrwerts. Der Mehrwert ist die Differenz zwischen Gebrauchswert und Tauschwert der Ware Arbeitskraft. Arbeitet der Arbeiter zehn Stunden am Tag, dann arbeitet er sechs Stunden für seinen Lohn. In den verbliebenen vier Stunden arbeitet er nur für den Mehrwert, der vollständig dem Kapitalisten zufällt.


Der Kapitalist wird stets versuchen, den Mehrwert zu steigern. Er kann zum Beispiel seine Arbeiter länger arbeiten lassen. Arbeitszeit lässt sich aber nicht beliebig verlängern. Also, folgert Marx, versucht der Kapitalist, den Teil der Arbeitszeit zu verkürzen, der zum Erhalt der Arbeitskraft notwendig ist. Der Arbeiter muss in kürzerer Zeit seinen Lohn verdienen, damit er länger Mehrwert schaffen kann.
Der Mehrwert in Marx' Theorie entspringt allein der menschlichen Arbeitskraft. Die Profitrate des Kapitalisten indes entspricht dem Verhältnis zwischen Mehrwert und Gesamtaufwand für Arbeitskraft, Maschinen und Rohstoffe. Der Drang des Kapitalisten zur Steigerung des Mehrwerts ist die Triebfeder für den technischen Fortschritt. Tendenziell aber sinkt in Marx' Logik die Profitrate mit steigendem Aufwand für den technischen Fortschritt. Sinkende Profitraten wiederum lassen nur solche Betriebe überleben, die in Massen produzieren können. Größere Fabriken verdrängen die kleineren: "Je ein Kapitalist schlägt viele tot." Durch den Einsatz von mehr Rohstoffen und Maschinen, durch bessere Verfahren und größere Spezialisierung können die Arbeiter in immer kürzerer Zeit immer mehr (Mehrwert) produzieren. Für Marx steht anders als beim liberalen Ökonomen Adam Smith nicht dieser enorme Produktivitätsfortschritt der arbeitsteiligen Gesellschaft im Vordergrund. Marx betrachtet vor allem die Schattenseiten der industriellen Revolution.


Er beklagt, dass dem Arbeiter das Produkt seiner Arbeit und die Arbeit selbst fremd werden, dass immer weniger Arbeiter immer mehr Waren erzeugen, gleichzeitig durch den technischen Fortschritt immer mehr Arbeiter zu Arbeitslosen werden; dass die "industrielle Reservearmee", wie sie schon Ricardo voraussah, auf den Arbeitsmarkt drängt und die Löhne drückt. Mit den Löhnen sinkt die Kaufkraft, was dazu führt, dass die Produktion die Nachfrage übersteigt, die Preise sinken und Betriebe aufgeben. Marx diagnostiziert zyklische Krisen im Kapitalismus, mit Entlassungen und schwindender Kaufkraft in der Arbeiterklasse und der Anhäufung und Konzentration von Kapital in der Kapitalistenklasse. Die Krisen wiederholen sich in immer kürzeren Abständen, die industrielle Reservearmee wächst. Das Kapital konzentriert sich weiter, die Dynamik der Wirtschaft erlahmt.


Schließlich rennt der Kapitalismus in seine finale Krise, weil er unfähig geworden ist, die gesellschaftliche und ökonomische Entwicklung voranzutreiben. Als Beleg führt Marx in unzähligen Abschnitten und Fußnoten die Entwicklung Englands als die Geschichte von Klassenkämpfen an - von der Feudalherrschaft des 14. und 15. Jahrhunderts über die Enteignung und Vertreibung der Bauern von ihrem Land und die Entstehung der Bourgeoisie bis zum Kapitalismus des 19. Jahrhunderts. Aus Bauern werden Arbeiter, aus Selbstversorgern werden Konsumenten, mit der Bourgeoisie entsteht das kapitalistische System. Marx nennt diesen Vorgang die "ursprüngliche Akkumulation". "Sie spielt in der politischen Ökonomie dieselbe Rolle wie der Sündenfall in der Theologie", schreibt er. Wie Adam in den Apfel beißen musste, so ist auch die gesellschaftliche Entwicklung vom Kapitalismus zum Kommunismus unausweichlich, glaubte Marx.
Die Enteignung und Ausbeutung der Arbeiter ist nach Marx dreierlei für den Kapitalismus: Voraussetzung, Bestandteil und Todesurteil. Voraussetzung, weil ohne die Masse der von ihrem Boden vertriebenen Bauern keine Arbeiterklasse entstanden wäre: "Diese furchtbare und schwierige Expropriation (Enteignung) der Volksmasse bildet die Vorgeschichte des Kapitals." Bestandteil, weil der Kapitalist ohne Ausbeutung der Arbeiter keinen Mehrwert erwirtschaften kann, er sich dem Zwang zur Steigerung des Mehrwerts also nicht entziehen kann - unabhängig von seinen persönlichen Absichten. Todesurteil, weil die Arbeiter eines Tages revoltieren werden gegen die kapitalistische Klasse: "Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit der kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die (letzte) Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert."
Die letzte Stunde des kapitalistischen Privateigentums hat auch mehr als 130 Jahre nach Veröffentlichung des Kapitals noch nicht geschlagen: Im Gegenteil, in den Industrienationen verbesserten sich die Bedingungen der Arbeiter, stiegen die Löhne, nahmen die Arbeiter teil am Wohlstand der Nation. Marx hat mit seiner Kritik der Politischen Ökonomie sicher einen Beitrag dazu geleistet, dass es den Arbeitern fast aller Länder heute besser geht als zu Beginn der Industrialisierung.


Mit der Beseitigung des Grundübels der kapitalistischen Gesellschaft - des Privateigentums an Produktionsmitteln - glaubte Marx den Schlüssel für eine friedliche und wirtschaftlich erfolgreiche Gesellschaft ohne Klassen gefunden zu haben. Nach Marx bestimmt das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein. Er hielt es mit Rousseau, der davon ausging, dass der Mensch von Natur aus gut sei. Er glaubte, dass die Produktivität steigt, wenn die Arbeiter für sich selbst arbeiteten, weil nun alle Produktionsmittel allen gehören.
Die Theorie, die Marx in scheinbar logischer Reihenfolge darlegt, hält aber nicht stand, nicht vor der Lehre, nicht vor den Tatsachen der Geschichte. Der Kritiker Karl Popper wirft Marx vor, er habe die Lernfähigkeit und den Erfindungsgeist der Menschen im Kapitalismus unterschätzt, der Gang der Geschichte sei einfach nicht vorauszusagen. Gleichzeitig könne Marx nicht versichern, dass der Kommunismus tatsächlich eine Gesellschaft ohne Klassen hervorbringe, wenngleich Marx' Motive sicherlich ehrenhaft und der Wahrheit verpflichtet gewesen seien. Information und Motivation, gesteuert durch die unsichtbare Hand des Marktes, wie sie Adam Smith als unerlässlich erschienen, waren für Marx in der klassenlosen Gesellschaft Nebensache, ein für die Planwirtschaft leicht lösbares Problem. Er irrte.
Marx erkannte aber die Dynamik des Wirtschaftsprozesses, er sah Konjunkturzyklen voraus, wenngleich er sie allein als Vorboten einer endgültigen Krise des Kapitalismus missdeutete. Er entwickelte eine geschlossene Theorie des wirtschaftlichen Handelns in der Geschichte und zu seiner Zeit. Damit brachte Marx als erster Ökonom Wirtschaft und Geschichte zusammen.


Kommunistische Ideologie und ökonomische Theorie, offenbart sich im Kapital, stehen bei Marx im ständigen Widerstreit. Seine Sprache konnte kurz und prägnant und im nächsten Satz kompliziert und weitschweifig sein. Ein Kraftakt für Autor und Leser. Er analysierte scharfsinnig, er sammelte in unzähligen Büchern unermüdlich Belege für die nicht aufzuhaltende Evolution der Gesellschaft - für den Untergang des Kapitalismus -, aber den Kontakt mit dem Objekt seiner Untersuchung, dem Arbeiter, mied er.


Was Marx dennoch voraussah, erscheint am Ende dieses Jahrtausends geradezu unheimlich. Wie im Zeitraffer sah Marx die andere Seite des Kapitalismus: Ein großes Heer von Arbeitslosen steht einem ständig steigenden und konzentrierten Kapital gegenüber. Tatsächlich produzieren immer weniger Arbeiter immer mehr Waren. Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst, wenn auch nicht überall. Die Konzentration der Wirtschaft nimmt mit jeder Fusion weiter zu. "Mit der Expropriation vieler Kapitalisten durch wenige entwickelt sich ... die Verschlingung aller Völker in das Netz des Weltmarkts und damit der internationale Charakter des kapitalistischen Regimes." Ein Gespenst geht um in der Welt. Marx sah es, das Gespenst der Globalisierung.


Karl Marx: Das Kapital. Kritik der Politischen Ökonomie. Erster Band; Dietz Verlag, Berlin 1998; 35. Auflage,
Quelle: (c) DIE ZEIT 1999 Text von Anja Müller

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